Wie schreibt man einen Erfahrungsbericht über ein Objektiv, das mehr kostet als viele Kleinwagen? Insbesondere wenn man keine Ahnung hat vom Testen eines Objektivs. Und das irgendwie auch gar nicht mag – dieses Schreiben über Technik und so. Kann ich nicht. Will ich nicht. In etwa so habe ich reagiert als ich vor einigen Wochen das Angebot von Alexander Görlitz, Inhaber von Foto-Görlitz, bekam, das neueste Leica M-Objektiv für 2-3 Wochen zu testen und im Gegenzug einen kleinen Erfahrungsbericht für seine Webseite zu schreiben. Da er mich und meine Ansichten zur Fotografie durch meine Blog-Artikel wohl ein wenig zu kennen scheint, hat er gleich dazu geschrieben, dass ich nichts Technisches schreiben muss – einfach nur meine Eindrücke garniert mit ein paar Beispielfotos.
Wenn es nicht eben JENES Objektiv gewesen wäre, hätte ich dennoch dankend abgelehnt (Grund siehe oben), aber diese Gelegenheit KONNTE ich mir einfach nicht entgehen lassen. Ein Objektiv, das ich mir nicht leisten kann und das nicht einmal für Diejenigen lieferbar ist, die bereit sind, die geforderten irrwitzigen knapp 12.000 Euro auf den Ladentisch zu legen (was Leica-typisch dazu führt, dass die Preise auf ebay sich derzeit bei ca. 15.000 Euro einpendeln – ein Kurs, der angesichts der jährlichen Preiserhöhungen von Leica spätestens im übernächsten Jahr auch offiziell in der Preisliste stehen wird). Noctilux-M 1:1,25/75 asph. heisst es im offiziellen Leica-Prospekt. Nicht ohne die reisserische Ergänzung „Die Revolution der Portraitfotografie.“
Nun ja, schreiben kann man viel. Aber „die Wahrheit liegt nun mal auf’m Platz“ – hat ein berühmter deutscher Philosoph mal gesagt (vielleicht war’s aber auch nur Andy Brehme). Schaue ich mir das Ding halt mal an und schreibe meinen ersten (und wahrscheinlich auch letzten) Erfahrungsbericht über ein Objektiv. Um diesen Bericht richtig einordnen zu können, muss man mich wahrscheinlich ganz gut kennen – allen anderen bleiben wenigstens ein paar nette Bilder (oder sie lernen mich durch diesen Bericht ein bisschen kennen – wer weiss das schon?).
Vorausschicken muss ich, dass ich bereits seit 2009 mit digitalen M-Kameras fotografiere – seit der M9 um genau zu sein. Ein klein wenig Expertise bringe ich also durchaus mit. Meine Lieblingskamera der letzten Jahre ist die M Monochrom von Leica (als Schwarzweiss-Fotograf bin ich damals einfach nicht am Kauf vorbeigekommen) – zunächst viele Jahre die CCD-Version und seit einem Jahr die CMOS-Version auf Basis der M (Typ240). 1,5 Bildbände habe ich mit dieser Kamera fotografiert und bei ca. der Hälfte aller Fotos dürfte das Noctilux-M 0,95/50 an der Kamera gewesen sein. Ich habe also Erfahrung mit dem manuellen Fokussieren von hochlichtstarken Objektiven an einer Messsucherkameras. Diese Erfahrungen schwanken regelmässig zwischen „geht erstaunlich gut“ und „pain in the ass“ – aus letzteren Gründen habe ich mir irgendwann die Leica SL gekauft, mit deren (vorzüglichem) elektronischen Sucher das Fokussieren sehr leicht von der Hand geht (90% Trefferquote bei offener Blende). Ich habe mir daher vorgenommen, das neue Noctilux 75 erst mal an der SL auszuprobieren.
Aber erst mal galt es, das Objektiv auszupacken. Erster Eindruck: kleiner als ich dachte (und dennoch monströs für ein M-Objektiv wenn ich es z.B. mit meinem Summicron 35 vergleiche). Und dann nahm ich das Ding in die Hand – und spontan gab ich dem Noctilux den liebevollen Beinamen „der Gerät“ (und kündigte zeitgleich meine Fitnessclub-Mitgliedschaft für den nächsten Monat). Alter Schwede! Was für ein Brocken! Das ganze Ding besteht nur aus Glas (viel Glas!) und Metall (viel Metall!). Ziemlich genau ein Kilogramm wiegt das Noctilux und jetzt kann man sich natürlich darüber streiten, ob ein Kilogramm wirklich viel ist. Ein Kilo Erdbeeren putze ich weg wie nix – das ist mal sicher. Aber ein Kilogramm Glas und Metall, das an eine Leica M geschraubt wird, ist schon mehr als heavy. Von „kopflastig“ zu sprechen, wäre die Untertreibung des Jahrehunderts. Die Kombination Leica M Monochrom und Noctilux 75 besteht gefühlt nur aus Kopf. Wahnsinn! An der SL dagegen passt „der Gerät“ wie Arsch auf Eimer – mit dem kleinen „M-auf-L“-Adapter auf die SL montiert hat man eine perfekte Kombination in der Hand – schwer aber ausgewogen. Das soll im Übrigen keinen davon abhalten, das Noctilux auch und gerade an der Leica M Monochrom einzusetzen – meine Meinung: für das perfekte Bildergebnis muss man im Zweifelsfall auch mal eine Sehnenscheidenentzündung in Kauf nehmen …
Noch ein paar technische Details – sortiert von unwichtig zu wichtig:
In dem Objektiv sind neun Linsen in sechs Gruppen verbaut – davon zwei asphärische Linsen. Ich habe das jetzt nicht nachgezählt – in dem Punkt vertraue ich einfach mal dem Leica-Datenblatt und offen gestanden hätte ich bei dem Gewicht gedacht, dass es noch ein paar Linsen mehr sind.
Schon wichtiger (für mich): der Mindestaufnahmeabstand des Objektivs beträgt schlanke 85cm, was für ein M-Objektiv erstaunlich gering ist. Zum Vergleich: das Noctilux-M 0,95/50 hat einen Mindestaufnahmeabstand von 100cm. Erreicht wird die deutliche Verbesserung bei dem 75er Noctilux angabegemäß durch ein so genanntes Floating Element – steht im Datenblatt. Glaube ich einfach mal so. Was ich aber tatsächlich sehe: es funktioniert! Die Abbildungsqualität ist auch und gerade im Nahbereich einfach nur großartig! Dass man bei Offenblende und 85cm Aufnahmeabstand quasi gar keine Schärfentiefe mehr hat, ist geschenkt. Sieht trotzdem geil aus!
Wenn wir über hochlichtstarke Objektive reden, müssen wir zwangsläufig über Bokeh sprechen. Nicht zu verwechseln mit Bouquet – das ist wenn der Wein lecker riecht. Wenn bei Offenblende und anfokussiertem Vordergrund der Hintergrund schön in Unschärfe verschwindet, nennt man das Bokeh (und die technisch sehr viel schlaueren Menschen gruseln sich jetzt gerade vor so viel Simplifizierung in meinen Erläuterungen, aber ich denke, es ist klar, was ich meine, ne?). Je schöner die Unschärfe, desto schöner das Bokeh. Je lichtstärker das Objektiv, desto unschärfer ist die Unschärfe (und desto weniger muss man sich mit so profanen Dingen wie Bildaufbau und Hintergrundgestaltung kümmern – ist ja eh alles unscharf). Die Güte des Bokehs eines Objektivs wird im Wesentlichen von der Anzahl der Blendenlamellen bestimmt – 8 ist Durchschnitt und mit 9 Lamellen wird das Bokeh schon sichtbar besser. Das Noctilux-M 1,25/75 asph. kommt auch in diesem Punkt ziemlich breitbeinig daher und hat sogar 11 (!) Blendenlamellen! Und was soll ich sagen? Man sieht’s (aber dazu später mehr)!
Wie aber arbeitete es sich denn nun mit diesem Objektiv? Wie fühlt es sich an? Ich glaube, meine Tochter würde beide Fragen mit einem schlichten „voll porno“ beantworten. Und ich würde ihr Recht geben. Das ist schon ein beinahe sinnliches Vergnügen, mit dem Noctilux zu fokussieren (genau so wie mit seinem „kleinen Bruder“). Seidenweich mit dem genau richtigen Widerstand – nicht zu wenig und nicht zu viel. Und die Blenden rasten sanft aber bestimmt ein – genau so wie es sein soll – und wie man es für ein Objektiv, dass beinahe Fantastilliarden kostet, auch erwarten darf. Made in Germany halt. Handgefertigt. Woraus sich schon im Wesentlichen der nahezu obszöne Verkaufspreis ergibt. Der andere Grund für die Preisgestaltung dürfte Leica-typisch ausfallen: weil sie es können (und Chinesen und Amerikaner sowieso alles kaufen, wo Leica draufsteht)!
Und auch wenn ich jetzt schon so viel geschrieben habe – das einzig Relevante bei der Beurteilung eines solchen Objektivs kann/darf/sollte nur eines sein: die Abbildungsqualität! Und nicht nur das – eine gute Abbildungsqualität haben mittlerweile sehr viele (sehr viel günstigere) Objektive. „Wenn das Ding nicht irgendetwas ganz Besonderes macht, ist es sein Geld nicht wert. Basta!“ – so war meine Grundeinstellung bevor ich mit dem Noctilux die ersten Fotos machte. Und ich ging sogar noch einen Schritt weiter: ich wollte das Objektiv nicht gut finden. Weil von wegen Preis und so. Also habe ich parallel mit anderen Kameras und anderen Objektiven an der Leica fotografiert. Keine Ziegelmauern, kein Millimeterpapier. Sondern Menschen. Weil das meine Kernkompetenz ist. Und weil technische Angaben wie Auflösung von x Linien etc. den Weg für das Besondere verstellen können. Ich erinnere mich an mein erstes Noctilux: das Noctilux-M 1,0/50 – den Vorgänger des aktuellen 0,95er. Das hatte in den Testergebnissen einschlägiger Fachzeitschriften eine MTF-Kurve, die nur knapp besser war als ein Flaschenboden. Die Bilder, die man mit dem Ding machen konnte, hatten aber vor allem eines: Charme! Ich verstehe jeden, der beim Lesen dieser Zeilen kopfschüttelnd vor dem Rechner sitzt, aber ich hatte Sie/Euch gewarnt: das hier ist ein etwas „anderer“ Erfahrungsbericht … ;)
Tja, und was soll ich nach zwei Wochen intensivsten Testens (u.a. eine Woche auf Island) sagen? Kennt Ihr diesen einen Song von Deichkind? Genau DEN … „LEIDER GEIL“! Ich wollte spontan in den Garten gehen und meine bisherigen Objektive verbrennen … anfangs dachte ich noch, dass ich natürlich gegen eine gewisse Einbildung nicht immun bin – dafür fotografiere ich schon zu lange mit Leica und bei der Hassliebe zu Leica überwiegt halt eindeutig die Liebe. Aber ich habe ein paar Bilder auch der besten Ehefrau von Allen gezeigt – der unbestechlichsten Person, die ich kenne und die als Wassermann-geborene der perfekte Gegenpol zu meinem Fische-Sternzeichen ist. Jede Menge A/B-Vergleiche und das Ergebnis war immer das Gleiche. Die Ergebnisse mit dem Noctilux haben etwas, das man ganz schwer beschreiben kann – sie sind nicht schärfer oder kontrastreicher oder was man sonst noch für technische Parameter anführen kann. Für mich sehen sie „analoger“ aus und ich weiss nicht so recht, woran das liegt. Wahrscheinlich an dem Übergang von scharfen zu unscharfen Elementen in einem Bild – etwas, das wahrscheinlich kein anderer Objektivhersteller so gut in den Griff bekommt wie Leica. Wie gesagt: ich weiss es nicht. Aber es haut mich um. Das hatte ich tatsächlich so nicht erwartet.
Respekt, Leica! Obwohl ich längst nicht alles prickelnd finde, aber hier habt Ihr Euch (mal wieder) selbst übertroffen!
Abschließend: mein Dank geht an Alexander Görlitz für diese Gelegenheit. Aber BITTE sprich mich nie wieder mit so etwas an! ;)
Die nachfolgenden Bilder wurden alle mit der Leica SL und dem Noctilux-M 1,25/75 asph. bei Offenblende f/1,25 fotografiert (Klick macht gross).