aj’s trivia (#96) – April 2019


 
Foto: Yasemin Roos
 
 
aj’s trivia*
(Folge 96)
 
*trivia: „wissenswerte Kleinigkeiten, „dies und das, manchmal auch Kurioses“ [Wikipedia]
 
VAGINA! PENIS! BRÜSTE! NIPPEL! EICHEL! VULVA! VENUSHÜGEL!

Na? Unangenehm berührt? Keine Bange – Ihr wäret in guter Gesellschaft. Prüderie ist allenthalben auf dem Vormarsch, das viktorianische Zeitalter erlebt ganz sicher bald ein Revival. Man empört sich über Facebook und Co. ob ihrer Zensur, aber die Schere in unser aller Kopf ist längst viel größer als wir uns selbst eingestehen wollen. Aus Angst vor Repressalien (eine Facebook-Sperre scheint für viele Mitmenschen ungefähr gleichbedeutend mit der Todesstrafe zu sein) werden weibliche Nippel wegretuschiert – und alles andere, was auch nur im Entferntesten auf Sexualorgane hinweisen könnte, gleich mit. Dass das in aller Regel Scheisse aussieht: geschenkt! Dass das aber auch noch ganz andere Dinge mit uns anstellt, scheint Niemand zu bemerken. Es grenzt an Hysterie – nicht selten sind wir bereits jenseits dieser angekommen.
 
 

 
 
In einer Fotografen-/Modelgruppe auf Facebook wird das Bild eines Frauentorsos gepostet (stark abstrahiert und an eine Computergrafik erinnernd). Zu erkennen ist (abstrahiert) neben den Brüsten der Frau auch ihre Vulva („camel toe“) und es dauert handgestoppte 90 Sekunden bis sich die erste Bedenkenträgerin zu Wort meldet. Das Bild sei sehr schön und dass der Venushügel zu erkennen sei, ginge schon irgendwie klar, aber dass die Vulva zu erkennen ist, wäre dann doch zu „intim“ und „privat“.
 
Ich gönne jedem Menschen seine Befindlichkeiten, aber ich finde es bedenklich, wenn sie als Maßstab für den allgemeinen Geschmack herangezogen werden. Bei einem anderen Bild (Composing einer nackten Frau mit Leguan und Milch) waren Kommentare wie „geschmacklos“ zu lesen und ich frage mich, wer genau denn eigentlich den Geschmack definiert, von dem hier die Rede ist. Und es geht noch weiter: jemand macht sich die Mühe, 400% in das Bild herein zu zoomen, um festzustellen, dass die Frau sich den Schambereich offensichtlich nicht zu 100% rasiert, was mit einem „Schamhaar? Igitt!“ quittiert wird.
 
Nur noch mal zur Erinnerung: wir reden hier nicht von Stammtischgesprächen, sondern von Kommentaren unter (künstlerischer) Fotografie. Man MUSS das natürlich alles nicht mögen, aber wann ist uns eigentlich die Leichtigkeit des Seins abhanden gekommen? Das „laissez-faire“? Heute gehen wir hin und zensieren sogar LP-Cover bevor wir sie in den sozialen Medien posten, um nicht der Pädophilie verdächtigt zu werden – wie heute auf Facebook zu sehen (Album „Nevermind“ von Nirvana – Ihr kennt es sicher).
 
 

 
 
Wann ist es eigentlich zur raren Ausnahme geworden, dass auf Männer-Akten der Penis zu erkennen ist? Was genau ist schlimm daran, dass man bei einem Frauen-Akt die Vulva sieht? Es treffen sich zwei Menschen – der eine fotografiert, der andere lässt sich fotografieren. Beide feiern bestenfalls das Ergebnis. Mit welchem Recht wird dann anschließend von Dritten moralisiert? „Ich würde mich niemals SO vor der Kamera zeigen!“ ist ja völlig okay. Aber warum muss man das anderen absprechen?
 
Ich persönlich habe nie die Faszination von Bondage und Bondage-Shootings verstanden. Ich persönlich finde das doof. Ich käme allerdings nie auf die Idee, Anhänger dieser Kunstform (denn eine solche ist das Ganze ja wohl) als „Perverse“ zu beschimpfen. Oder unter veröffentlichten Bildern zu fragen, ob das denn sein müsse …
 
 
Egal was Du tust – es kommt immer Jemand daher und fängt an zu tabuisieren. „Geht gar nicht!“ ist da häufig zu lesen. Und ich frage mich dann sehr oft „sagt WER?“. Vielleicht sollten wir uns das alle öfter mal fragen, wenn wir wieder in vorauseilendem Gehorsam die Schere bei uns selbst ansetzen. Nur so ein Gedanke …
 
Die heutige Musik stammt aus dem Film „Streets of Fire“*** aus dem Jahr 1984. Aus einer Zeit, in der Duschgel im Vorabendprogramm mit barbrüstigen Frauen beworben wurde – ohne dass nachweislich auch nur ein einziger Zuschauer erblindet ist. Heutzutage duscht man in der Werbung im Bikini und in den meisten Filmen schläft Frau in BH und langen Hosen. Dafür gibt’s nachmittags Werbung für Gleitgel und spätabends für Telefonsex. Irgend etwas ist da mächtig schief gelaufen …
 
In diesem Sinne: haltet die Ohren steif und bleibt mir gewogen!
 
Cheers!
Andreas
 
 
***Kultfilm mit grandiosem Soundtrack aus der Feder von Jim Steinman