Foto: Yasemin Roos
aj’s trivia*
(Folge 75)
*trivia: „wissenswerte Kleinigkeiten, „dies und das, manchmal auch Kurioses“ [Wikipedia]
Letzte Nacht habe ich fast 11 Stunden geschlafen – ohne dass übermässig Alkohol im Spiel gewesen wäre. Ich glaube, das ist mir zuletzt als Teenager passiert und ich bekomme eine Ahnung davon, was Wissenschaftler und Ärzte meinen, wenn sie sagen, dass sich der menschliche Körper irgendwann schon holt, was er braucht. Was nur bedeuten kann, dass ich in den letzten Wochen eindeutig zu wenig Schlaf bekommen habe. Aber sonst geht’s mir gut. So richtig gut – nicht dieses „instagram-mir-geht’s-gut“, wenn Ihr versteht, was ich meine …^^
Was ist in der abgelaufenen Woche passiert? Vorgestern wurde Madonna 60 Jahre alt. Am gleichen Tag starb Aretha Franklin im Alter von 76 Jahren an Krebs. Und was macht mein Heimat-Radiosender? Spielt den ganzen Tag Musik von Madonna. Es ist wirklich nicht in Worte zu fassen. Ich meine, nichts gegen Miss Ciccone und ihren musikalischen Output, aber Aretha Franklin … meine Güte, sie ist/war die erfolgreichste musikalische Künstlerin aller Zeiten! Eine der größten Stimmen (wenn nicht DIE Stimme!) des Soul! Die erste Künstlerin in der Rock’n’Roll Hall of Fame! Sie hat Künstlerinnen wie Whitney Houston und Beyoncé den Weg geebnet und wenn sie nicht unter großer Flugangst gelitten hätte, wäre sie wahrscheinlich auch in Europe zu einer noch größeren Ikone geworden. Der „Rolling Stone“ kürte sie 2008 zur besten Sängerin aller Zeiten und jetzt ist sie gestorben. Und was macht der WDR? Spielt den ganzen Tag „Like a virgin“ und ähnliche Kostbarkeiten. Und ich weine leise in meinen Kaffeebecher und bin einfach nur fassungslos …
Für meine heutige trivia habe ich mir quasi ein Leitthema ausgesucht, das da lautet „die Gesellschaft und ihre Lust an der Hysterie“. Was ich damit meine, wird vielleicht an den nachfolgenden Beispielen deutlich. Mir ist bewusst, dass ich damit möglicherweise polarisiere und längst nicht alle Leser meiner Meinung sein werden. Das Risiko nehme ich gern in Kauf. Ich stehe zu meiner Meinung und lasse mich dennoch gern auf eine Diskussion ein – solange sie konstruktiv geführt wird …
In Hamburg wurde vor kurzem Astra-Bier in Dosen auf Plakaten beworben, auf denen ein indischer Schauspieler in einem Meerjungfrauen-Kostüm (!) zu sehen ist. Er hat eine Dose Astra-Bier in der Hand und der Text zum Bild lautet „Wolle Dose kaufe?“. Ich finde das extrem lustig, auch wenn es mich nicht dazu verleitet, Astra Bier zu kaufen. Ein Journalist der Hamburger Morgenpost fand das nicht lustig, sondern extrem rassistisch und schnell wurde auf Twitter ein Shitstorm losgetreten, dem sich sogar der FC St. Pauli anschloss (etwas, das mich besonders betroffen macht). Die Konsequenz: die Plakate wurden abgehängt und die Brauerei sah sich genötigt Stellung zu beziehen. Stellung bezogen hat mittlerweile auch der indische Schauspieler, der die Welt nicht mehr versteht und die Humorlosigkeit und Ironiebefreitheit der Gesellschaft beklagt, in der ein solcher Shitstorm entstehen kann. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Bastian Pastewka mimt den indischen Rosenverkäufer mit dem Spruch „Wolle Rose kaufe“ seit den seligen Zeiten der SAT1 Wochenshow und die Persiflage der Persiflage (als eine solche muss man es ja eigentlich sehen) ist jetzt auf einmal rassistisch einzuordnen? Erneut wird hier in meinen Augen mal wieder deutlich über’s Ziel hinausgeschossen und aus (der grundsätzlich zu befürwortenden) Sensibilität für das Thema wird nur eines: Hysterie.
In Binz auf Rügen hat ein Restaurant bekannt gegeben, ab 17:00 Uhr keine Kinder unter 14 Jahren mehr zuzulassen. Zu viele Probleme gab es in der Vergangenheit mit faktisch unbeaufsichtigten Kindern, die durch das Restaurant getobt und andere Gäste beim Essen gestört haben. Viele Eltern scheinen auf dem Standpunkt zu stehen, dass man mit dem Zutritt zum Restaurant gleichzeitig den Erziehungsauftrag an die Mitarbeiter übertragen kann – anders ist die Ignoranz vieler Eltern tatsächlich nicht zu erklären. Um dieses Thema soll es aber gar nicht gehen, sondern um das mediale Echo, dass die Ankündigung des Restaurants ausgelöst hat. In den sozialen Medien überschlagen sich die Stimmen der Empörten und nicht wenige entblöden sich sogar, den Betreibern die Konzession entziehen zu wollen. Als Zeichen der Kinderfeindlichkeit Deutschlands wird das Ganze herauf stilisiert und ich warte nur darauf, dass das Thema von einem politischen Hinterbänkler aufgegriffen wird. Wir haben ja schliesslich das berühmte Sommerloch – da muss doch irgendwie Kapital draus zu schlagen sein. Was ist hier eigentlich passiert? Der (private!) Betreiber macht von seinem Hausrecht Gebrauch – von ca. 100 Restaurants in Binz auf Rügen gibt es künftig also eines, in dem Kinder abends nichts gewünscht sind. Es gibt also zahlreiche Alternativen – mehr als genug. Viele der Empörten rufen zum Boykott dieses einen Restaurants auf – ich meine … geht’s noch??? Wie verbohrt, wie borniert und wie intolerant muss man eigentlich sein? TOLERANZ … Ihr wisst schon … das am häufigsten missbrauchte Wort im deutschen Sprachgebrauch. Jeder hält sich für tolerant – die wenigsten sind es wirklich.
Hysterie gibt’s aber auch in der Fotografie. Man muss schon fast sagen „natürlich gibt es sie auch dort“. Lasst uns bei der nachfolgenden Diskussion mal nicht über Geschmacksfragen reden – zumindest würde es ungemein helfen, den eigenen Geschmack mal für einen Moment auszublenden. Lasst uns über Aktfotografie sprechen. Und ausnahmsweise will ich heute mal nicht auf die „neue“ Prüderie eingehen (so neu ist sie gar nicht), die sich in unserer Gesellschaft breitgemacht hat – hierzu habe ich auf der „come undone“ Tour beinahe jeden Abend Stellung bezogen. Selbst bei Denjenigen, die der Aktfotografie grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber stehen, gibt es immer noch sehr viele, für die es da quasi ein Tabu-Thema gibt: die weibliche Scham. Aus unerfindlichen Gründen wird sehr häufig ein unheimliches Gewese gemacht um dieses Thema. Nicht selten werden Bilder, auf denen die Vagina der Frau (mehr oder weniger deutlich) zu sehen ist, als pornographisch eingeordnet. Wohlverstanden: ich spreche nicht von Frauen, die sich so nicht fotografieren lassen wollen (auch wenn das häufig auf eben jene gesellschaftliche Tabuisierung zurückzuführen ist) – ich spreche von den fast hysterischen Reaktionen vieler Betrachter auf solche Bilder. Häufig werden sie (instinktiv) abgelehnt (Schamlippen = Pornographie) und man fragt sich, worauf dieser „Instinkt“ eigentlich begründet ist.
Was ist am weiblichen Schambereich unnatürlicher als an weiblichen Brüsten? Oder am männlichen Penis? Obwohl: da hätten wir ja fast schon wieder den nächsten Tabubereich, wenn man sich mal in den einschlägigen Fotogruppen umschaut. Warum eigentlich so verklemmt? Warum so prüde? Warum so hysterisch? Natürlich kann man Nacktheit unglaublich schlecht fotografieren. Aber das schliesst doch nicht aus, dass die Fotografie von Nacktheit nicht auch ästhetisch, schön und anspruchsvoll sein kein – auch (und manchmal vielleicht gerade weil) die weibliche Scham abgebildet wird. Ich persönlich finde, dass Ästhetik noch nie am Grad der Nacktheit festzumachen war. Ich finde auch nicht, dass man einerseits den natürlichen und unverkrampften Umgang mit Nacktheit einfordern und die weibliche Scham gleichzeitig tabuisieren kann.
Ich bin natürlich nicht so naiv zu glauben, die Hysteriker mit meinen Zeilen umstimmen zu können, aber vielleicht sieht’s der ein oder andere als Anstoss, zumindest ergebnisoffen zu diskutieren – und die Andersdenkenden nicht gleich zu verurteilen.
Zum Abschluss der dieswöchigen trivia noch mal Aretha Franklin. Mit diesem Song hat 1967 (!) alles begonnen. Aretha, Du warst wirklich die Allergrößte! REST IN PEACE!
In diesem Sinne: haltet die Ohren steif und bleibt mir gewogen!
Cheers!
Andreas