aj’s trivia (#79)

Foto: Yasemin Roos
 
aj’s trivia*
(Folge 79)
 
*trivia: „wissenswerte Kleinigkeiten, „dies und das, manchmal auch Kurioses“ [Wikipedia]
 
Die heutige Ausgabe meiner trivia widme ich meinem lieben Freund Timo, der mich kürzlich fragte, ob ich die Doku „Sound City“ schon gesehen habe. Als ich verneinte, meinte er nur, „Du MUSST Dir das unbedingt anschauen!“. Eine Woche später schrieb er mir wieder … ob ich mir jetzt endlich (!) „Sound City“ angeschaut habe? … die Tatsache, dass ich ihm kein begeistertes Feedback geschrieben hatte, konnte ja nur bedeuten, dass ich es immer noch nicht gesehen hatte. Ich erkannte eine gewisse Dringlichkeit in seinem insistierenden Verhalten und so nutzte ich die Tatsache, dass mir meine Gesundheit einen dicken Strich durch anderslautende Pläne machte und kaufte mir den Film und schaute ihn dann gestern Abend im Bett auf meinem iPhone (ich hasse Apple dafür, dass ich das nicht ohne AppleTV auf meinen Samsung Fernseher gebeamt bekomme!). Was soll ich sagen: die 10 Euro waren eines der sinnvollsten Investments der letzten Zeit …
 
Abgekürzt geht es um die goldenen Zeiten der Musik. Im Plattenstudio in „Sound City“, L.A., wo u.a. die nachfolgenden drei Songs aufgenommen wurden. Es geht um die Zeit als man noch etwas können musste, wenn man eine Platte aufnehmen wollte. Bevor die Digitalisierung Alles (Vieles) veränderte; die Musik möglicherweise vielfältiger, aber auch seelenloser wurde. Und wenn man so will, kann man all das zu 100% auf die Fotografie übertragen. Die Aussagen der vielen großartigen Musiker in dieser Doku (produziert von Dave Grohl) sind so frappierend auf den Punkt gebracht, dass man eigentlich nur vor dem Bildschirm sitzt und die ganze Zeit „ja, Mann!“ murmelt …
 
 


 
 
Wenn ich sage, dass sich das Allermeiste zu 100% auf die Fotografie übertragen lässt, sage ich damit nicht, dass die Digitalfotografie shitty ist – ich fotografiere mittlerweile schließlich selbst überwiegend digital. Anders als in der Musik – wo ich die analoge Technik bis heute der digitalen für überlegen halte, ist das analoge RESULTAT in der Fotografie nicht besser als das digitale – WENN die jeweiligen Protagonisten hinter der Kamera ihr Handwerk verstehen. Aber ich bedaure sehr, was das digitale Zeitalter aus der Fotografie gemacht hat. Weil viele jenseits des Handwerks (das ihnen häufig von der modernen Technik weitgehend abgenommen wird) nicht verstehen, worauf es in der Fotografie eigentlich ankommt (zumindest der Fotografie, in der ich zuhause bin): nämlich NICHT auf (technische) Perfektion! Es muss ehrlich sein, es muss aufrichtig sein – es muss authentisch sein. Es muss MENSCHLICH sein.
 
Digitale Fotografie verführt zu einem wie auch immer gelagerten Perfektionismus. Jede Aufnahme wird anhand der Displaykontrolle noch mal auf den Prüfstand gestellt. Alles wird so lange wiederholt, bis es „passt“. Verloren geht der Moment, weil das Gespür des Fotografen für den „Moment“ verloren geht. Es ist kein Widerspruch, wenn Anton Corbijn die Segnungen des digitalen Post-Processings preist und dennoch weiterhin ausschliesslich analog fotografiert. Auch die Musiker aus den oben gezeigten Clips nutzen mittlerweile digitale Tools zur Verfeinerung – aber eben nur dafür. Das Schlagzeug bleibt ein Schlagzeug – auch wenn ein Drum Computer theoretisch (!) genau so gut seinen Dienst erfüllt. Wer die diversen Computer nutzt – einfach nur weil er kein Instrument beherrscht, wer stimmlich nur mit den diversen Overdubs und Autotunes über die Runden kommt, ist eben vieles, aber kein Musiker. Basta!
 
Natürlich kann und darf man auch in der Fotografie die digitale Technik nutzen, aber es wird recht schnell klar, wer zur Kategorie Computer-Nerd und wer zur Kategorie Fotograf gehört. Man kann (und sollte!) seine Digitalkamera „quasi“ analog benutzen – wenn man es „kann“, versteht sich. Die Konzentration auf das hier und jetzt – auf den Moment und den Menschen vor der Kamera. Kein Netz und kein doppelter Boden. Sehen, erkennen und fotografieren – das ist, worum es geht! Und das ist auch der Grund, warum sich zwar Legionen von Hobbyfotografen über die Leica M-D (die Digitalkamera ohne Display/Monitor) lustig machen, diese aber im Prinzip die konsequenteste Digitalkamera von allen ist. Leider gehört die Nachfolgerin – die jüngst vorgestellte Leica M10-D nicht dazu. Mit eingebautem WLan-Modul, dass die gemachten Bilder via App auf’s Handy-Display beamt führt sie den (genialen) Grundgedanken ad absurdum (ein Feature, dass bei der Produktvorstellung auch noch besonders beworben wurde) und der Aufzugs-/Spannhebel, der keiner ist (sondern nur eine ausklappbare Daumenstütze) ist einfach nur doof. Ich hasse Fake jedweder Art und deswegen ist das Ding für mich ’ne Gurke – sorry to say …
 
 

 
Dass meine Zeilen wahrscheinlich von keiner breiten Mehrheit abgenickt werden, ist mir völlig klar. Ich merke das an vielen Dingen – auch an der ein oder anderen Reaktion auf meine Bilder in der letzten Zeit. Erst in den letzten Tagen wieder: ich postete ein Bild auf Instagram und worüber wurde am meisten diskutiert? Natürlich über die BH-Abdrücke. Einige konnten sich nicht erklären, warum ich die denn nicht wegretuschiert habe. Kommentare wie „ich mag Deine Fotografie, aber die BH-Abdrücke hättest Du ja wirklich wegmachen können“ ärgern mich nicht wirklich. Sie amüsieren mich auch nicht (mehr) – Ihr müsst Euch vielmehr einen grossen Seufzer vorstellen, der aus meinem tiefsten Inneren kommt.
 
Die digitale Fotografie hat zu einer neuen Sichtweise geführt in der Fotografie. Schärfefetisch und Auflösungsonanie – perfection at its worst. Schlimmer noch: nicht nur technisch soll alles perfekt sein, sondern möglichst auch das Motiv. Und da Menschen nie wirklich perfekt sind (was eben gerade ihren Reiz ausmacht), wird digital nachgeholfen. Die Augen schnell etwas größer, die Brüste etwas straffer, die Lippen voller und die Schlüsselbeine via dodge & burn konturierter – Letzteres könnte man zwar auch mit richtiger Lichtsetzung machen; aber dann müsste man’s halt können. Und ganz wichtig: einfach nur Emotionen reichen nicht – eine weinende Frau sieht mit aufgehellten Augen wirklich besser aus. Es heisst schliesslich Augenweiss – da muss es natürlich auch WEISS sein – und wenn das nicht hilft, greift man zu Dash. Dann wird‘s sogar weisser als weiss. Und natürlich keine BH-Abdrücke! So etwas hat Frau nicht. Niemals! (wer Ironie in meinen Sätzen findet, darf sie behalten).
 
Natürlich gelten in der Beauty- und Werbefotografie andere Regeln. Manch einer wird sagen „leider“, aber das sind einfach andere „Sportarten“. Da kann und will ich nicht mitreden – darüber will ich nicht lamentieren! Ich finde es nur irritierend, wenn diese „Spielregeln“ – die nicht selten dazu führen, dass gerade Heranwachsende ein völlig falschen Frauenbild vorgelebt bekommen -, zunehmend auch in der Porträtfotografie selbstverständlich werden. Wer sich den Spass geben mag, macht einfach mal eine Google Bildersuche mit den Begriffen „portrait“ und „authentisch“ (oder „authentic“) …
 
Viele können noch nicht mal etwas dafür, dass sie mehr oder weniger unbewusst zum Teil dieser Maschinerie geworden sind. Sie haben das goldene Zeitalter der Fotografie/Musik aufgrund der späten Geburt häufig nicht (bewusst) miterlebt und orientieren sich nur an dem, was sie in den einschlägigen Medien sehen. Meine Empfehlung: schaut Euch „Sound City“ an – sehr inspirierend auch für die Fotografie! Es vermittelt in jedem Fall aber auch mal eine andere Sicht auf die Dinge – eine Sicht, die auszusterben droht. Was unendlich schade wäre. Nicht auszudenken, wenn die Sony-Kameras ab 2020 solche „Fehler“ wie BH-Streifen automatisch rausrechnen, oder? Lasst den Menschen ihre „Fehler“ – es macht sie menschlich.
 
 

 
A pro pos Fehler: hört Euch mal die Aufnahme von Johnny Cash an (aus seinem Album „American Recordings“) – ebenfalls im Studio von „Sound City“ aufgenommen: da knackt‘s, da rauscht‘s und an der brüchigen Stimme von Johnny Cash hört man, dass es dem Mann nicht gut geht. Aber genau DARUM geht‘s! Man hört den Schmerz, man kann ihn förmlich greifen, und man weiss „da singt ein ganz Großer solange er noch kann“. Und die Emotionen übertragen sich auf den Zuhörer. Das kann Musik, wenn sie ehrlich ist – wenn sie authentisch ist. Und genau DAS kann auch die Fotografie …
 
 

 
Wie sagt Tom Petty so schön in „Sound City“ als ihm ein Techniker erklären will, dass man heute kein Tonstudio mehr benötigt um eine Platte aufzunehmen – dass man das alles am Computer machen kann:

I don‘t give a shit!
 
In diesem Sinne: haltet die Ohren steif und bleibt mir gewogen!
 
Cheers!
Andreas