Was ist ein (gutes) Porträt? Und was hat der Bildstil damit zu tun?

Die überwiegende Zahl der in den einschlägigen Fotogruppen auf Facebook und Co. gezeigten Porträts sind meiner Meinung nach keine – in den meisten Fällen handelt es sich um Beautyfotos. Magazintauglich und vielleicht sogar kampagnengerecht – in den seltensten Fällen spielt aber der Mensch vor der Kamera die tragende Rolle, sondern ein (hübsches) Model, das vor der Kamera posiert – inszeniert und anschliessend in Photoshop bearbeitet.
 
Fangen wir mit dem Model an. Das Problem: (erfahrene) Models sind nicht zwangsläufig am Besten für die Porträtfotografie geeignet. Das Gegenteil ist zumeist der Fall (zumindest für einen Einsteiger in die Porträtfotografie)! Aber warum ist das so? Oscar Wilde hat das in einem sehr interessanten Zitat auf den Punkt gebracht:
 
 
„Die einzig glaubwürdigen Porträts sind diejenigen,
die wenig vom Model in sich tragen und viel vom Künstler.“

 
 
Das, was sich auf den ersten Blick wie ein Affront gegen Models liest, ist keiner. Tatsächlich ist es doch so, dass die ehrlichen Porträts (die wirklich berührenden) erst da beginnen, wo die Selbstinszenierung des Models aufhört. Es liegt an dem Fotografen, die (Selbst)Inszenierung des Models zu durchbrechen. Wenn wir davon sprechen, dass sich das Model „öffnen“ soll, meinen wir eigentlich, dass es nicht mehr modeln soll – dass sie es zulässt, einfach „nur“ Mensch zu sein (im Wildschen Sinne ihren Anteil zurückzuschrauben). Wenn wir berührende Porträts sehen (oder als solche empfinden), liegt das in aller Regel nicht daran, dass sie besonders gut fotografiert sind. Sondern daran, dass eine gewissen Stimmung transportiert wird. Dass es der Fotograf geschafft hat, den richtigen „Knopf“ am Model zu finden, um den Menschen so zeigen zu können, wie er ihn sieht (und nicht, wie das Model von Dutzenden anderen Fotografen einfach nur „abfotografiert“ wurde). Aus diesen Gründen MUSS der Anteil des Fotografen (in dem oben beschriebenen Sinne) höher sein als der des Models! Und das ist in der Zusammenarbeit mit erfahrenen Models ungleich schwerer als mit Jemandem, der nicht so viel (oder gar keine) Erfahrung vor der Kamera hat. Letztere wissen nämlich gar nicht, wie so ein Posing funktioniert – sie sind von Beginn an natürlicher (wenn auch zuweilen etwas verkrampfter – aber das ist ein anderes Thema).
 
UPDATE / EINSCHUB: natürlich bedeutet das oben Gesagte NICHT, dass erfahrene Models (oder Schauspieler oder Künstler usw.) per se nicht für natürliche Porträts geeignet wären. Es ist häufig nach meiner Beobachtung oft nur schwieriger, sie aus ihrer „Rolle“ herauszukommen. Wenn ich als Anfänger der Porträtfotografie dann noch den Fehler mache, mich mehr auf meine Technik (oder auf die Inszenierung oder die anschliessende Bearbeitung der Bilder) zu konzentrieren als auf das Model, füllt das Model dieses „Kommunikations-Vakuum“ mit dem einstudierten Repertoire an Posen und Ausdrücken. Der Fotograf fotografiert das, was das Model anbietet, dann einfach ab. Dabei entstehen häufig „schöne Fotos“ – aber ganz selten interessante (berührende) Porträts! Die „Kunst“ der guten Porträt-Fotorafen liegt genau darin, die Models von ihrer Selbstinszenierung abzuhalten – durch ganz viel Empathie die Models für sich zu vereinnahmen. Um dann authentische Bilder machen zu können, wie es nur wenigen anderen gelingt. Einer der besten Vertreter dieser Fotografen-„Gattung“ ist in meinen Augen Peter Lindbergh, dessen Leistung oft verkannt wird, weil er ja „eh nur diese Top-Models fotografiert, die ja sowieso immer gut aussehen auf Bildern“. Dass es viel schwerer ist als viele denken, habe ich oben erläutert.
 

Und das führt mich nun zum Thema Bildstil – ein Thema, das aus meiner Beobachtung von vielen falsch verstanden wird; denn bei (guten weil berührenden) Porträts geht es NICHT um Cyan- vs. Orange-Crossingeffekte, eingesetzte Weitwinkel- oder Telebrennweite, die Entscheidung zwischen Farbe und schwarzweiss oder dodge & burn vs. Frequenztrennung. Es sollte allein um den (unverstellten) Blick auf den Menschen vor der Kamera gehen! Möglichst unverfälscht und natürlich – weshalb Inszenierungen jeder Art, Posings und Beautyretusche i.d.R. kontraproduktiv wirken. Bezüglich der Bearbeitung scheint mir überhaupt stellenweise ein Irrglaube vorzuliegen: wer glaubt, einen Bildstil durch spezielle Presets erreichen zu können, ist auf dem Holzweg – und hierbei spare ich den naheliegenden Aspekt sogar aus, nämlich den, dass ein Bildstil (im Sinne von „look“) via Preset beliebig und von jedermann kopierbar ist. Der allerbeste Bildstil in der Porträtfotografie ist nämlich der, den man nicht als solchen wahrnimmt! Peter Lindbergh behauptet von sich selbst, keinen Bildstil zu haben – aber warum sagt er das? Weil er die Gefahr sieht, dass ein Bildstil vom abgebildeten Menschen ablenkt.
 
Erst wenn der (Photoshop-)Effekt nicht mehr vom Bildinhalt ablenkt, fangen wir an, über gute Porträts zu sprechen. Denn erst dann wird wahrnehmbar, um was (bzw. WEN) es in dem Bild eigentlich geht. Und dafür braucht’s beim Fotografen vor allem eines: Empathie! Man ist als Porträtfotograf also gut beraten, sich um EINES zu kümmern – sich für EINES wirklich (!) zu interessieren: den Menschen vor der Kamera! Alles andere kommt dann wie von selbst …
 
 

Christine Hainthaler
 
 
 

DISCLAIMER: Meine Texte spiegeln stets meine persönliche Meinung wider. Ich bin davon überzeugt, dass es die ultimative Wahrheit in der Fotografie nicht gibt, aber ich erlaube mir in meinem Blog eine pointierte und streng subjektiv gefärbte Sicht auf die Dinge, die mich beschäftigen und bewegen.