„Schärfe gibt’s beim Inder“


 
 
Vor wenigen Tagen verfolgte ich in einer Fotografie-Gruppe auf Facebook eine Diskussion, deren Inhalt für mich einen der wesentlichen Gründe widerspiegelt, warum es hier und andernorts so viele seelenlose Porträts zu sehen gibt. Ich erlaube mir, nachfolgend meine Meinung zum Thema „technische Perfektion bei Porträts“ darzulegen:
 
Moniert wurde bei einem Porträt die fehlende Schärfe auf den Augen (diese waren tatsächlich nicht „knackscharf“), worauf hin das Model erwiderte, dass sie aus einer ganzen Serie trotz Unschärfe genau dieses Bild ausgewählt habe, weil es aus ihrer Sicht die Emotionen am besten transportiert. Erwidert wurde sinngemäss, dass man es dann eben so lange wiederholen muss, bis das Bild auch technisch perfekt ist. Ein Fotograf erklärte seinen „workflow“, bei dem er nach jeweils drei gemachten Aufnahmen die Schärfe am Kameradisplay prüft und – wenn diese nicht sitzt – drei weitere Aufnahmen macht. So lange, „bis alles stimmt“. Ein weiterer Fotograf verstieg sich zu der These „ein Fotograf der seine Bilder nicht sofort ansieht und kontrolliert um etwas evtl.zu verbessern ist max. ein “ Knipser “ der hofft bei 1000 Auslösungen ein gutes Bild dabei zu haben.“
 
Warum es mich bei diesen Aussagen dezent schüttelt und warum ich es für falsch halte, die technische Perfektion in der Porträt-Fotografie zu priorisieren, erkläre ich gern:
 
Inhalt und Emotionen schlägt technische Perfektion. Ist so, war so und wird immer so sein! (Wichtig: wir sprechen hier über die PORTRÄT-Fotografie – sie unterliegt anderen „Regeln“ bzw. sie entzieht sich zumeist den technischen Regeln, weil sie – anders als die Genres Beauty- und Fashionfotografie – einen zusätzlichen Faktor beinhaltet: nämlich den Faktor MENSCH! Menschen sind in der Regel zwar auch auf Beauty- und Fashionbildern zu sehen, aber sie spielen eine untergeordnete Rolle. Wenn Kollege Rachor eines seiner Beauty-CloseUps macht, braucht er kein Model mit Ausdruck, sondern er braucht eines mit schönen Lippen und Augen und er braucht eine tolle Make-Up-Artistin. Seine Bilder leben auch von absoluter technischer Perfektion – sie ist tatsächlich elementar. Wenn bei einem CloseUp die Schärfe auf der Nasenspitze liegt, ist das Ganze ein Fall für die Tonne.Aber wir reden hier von PORTRÄTS!)
 
Der wichtigste Grund aber …:
 
Die Konzentration auf technische Perfektion verstellt den Blick auf das Wesentliche: den Menschen vor der Kamera! Dass ein Model völlig genervt davon ist, dass der Fotograf nach jeder Aufnahme (oder auch nur nach jeder dritten Aufnahme) auf das Kameradisplay schaut und erst mal einen 100%-Zoom auf die Augenpartie macht, ist völlig nachvollziehbar! Das Model wird aus dem Flow gerissen – es kommt überhaupt nicht dazu, sich zu „öffnen“ – sich „fallen zu lassen“. Dass dabei nur stereotype Bilder entstehen können, liegt auf der Hand.
 
Es gibt in der Porträt-Fotografie nur einen Aspekt, der wirklich relevant ist: den MENSCHEN und seine Emotionen. Dieser Mensch vor der Kamera will vor allem, dass sich der Mensch hinter der Kamera: für ihn INTERESSIERT! Er will einfach nicht, dass der Fotograf mehr mit seiner Kamera beschäftigt ist als mit dem Bilder machen! Es ist nicht verwunderlich, dass die meisten in den einschlägigen Internetforen gezeigten Porträts eher fad sind. Es liegt niemals (!) an fehlender technischer Perfektion – NIEMALS! Sondern es liegt daran, dass das Bild keine Stimmung transportiert! Wie soll es denn auch eine Stimmung transportieren, wenn es schon keine am Set gab?
 
Allen technisch orientierten Porträtfotografen empfehle ich: tut Euch selbst einen Gefallen und klebt mal beim nächsten Shooting das Kameradisplay mit Gaffa-Tape ab. Es führt (nach einer Weile) dazu, dass Ihr Eure Aufmerksamkeit uneingeschränkt dem Menschen VOR der Kamera widmet. Und dies ist die Voraussetzung dafür, echte (!) Emotionen einzufangen. Die halbe Miete für ein gutes Porträt!
 
Wer dagegen Schärfe will, soll zum Inder gehen …

 
 
 

DISCLAIMER: Meine Texte spiegeln stets meine persönliche Meinung wider. Ich bin davon überzeugt, dass es die ultimative Wahrheit in der Fotografie nicht gibt, aber ich erlaube mir in meinem Blog eine pointierte und streng subjektiv gefärbte Sicht auf die Dinge, die mich beschäftigen und bewegen.