Natürlich ist schön!

Beobachtung Nr. 1:
Ein befreundetes Model hat kürzlich ein unretuschiertes Bild von sich auf Facebook gepostet, auf dem sie ungeschminkt zu sehen ist. Die Kommentare, die sie zum Teil darauf bekommen hat, haben mich verblüfft. Nein, streng genommen, haben sie mich sogar entsetzt. „So würde ich nie rausgehen“ und „dass Du Dich so was traust“ waren noch die harmloseren Aussagen – „das sieht ja furchtbar aus“ einer von vielen deftigeren Kommentaren. Verblüffend für mich: 95% der negativen Reaktionen stammten von Frauen!
 
Beobachtung Nr. 2:
Bei mir passiert es in letzter Zeit kaum noch, aber von Kollegen weiss ich, dass sie regelmässig mit Kundenwünschen mit dem Tenor „bitte hier etwas weniger und da darf’s ruhig etwas mehr sein“ konfrontiert werden. Wohlbemerkt: ich spreche nicht vom Metzgerladen um die Ecke sondern von Fotografen! ;)
 
Beobachtung Nr. 3:
Das mit den Selfies ist ja so eine Sache. Kann man gut finden oder nicht – Fakt ist: man entkommt ihnen nicht. Auf keiner social media Plattform. Es gab Zeiten, da habe ich von sich bei mir bewerbenden Models in Ermangelung professioneller Polas im Ausnahmefall auch mal Selfies als Bildmaterial akzeptiert. Diese Zeiten sind vorbei und warum ist das so? Weil heutzutage kaum noch ein Selfie veröffentlicht wird, dass nicht durch Apps wie Facetune und Co. „optimiert“ ist. „Aufgehübscht“ wie es oft niedlich formuliert wird.
 
Beobachtung Nr. 4:
Ich sehe in letzter Zeit des öfteren, wie sich (Hobby)Models von der „Szene“, von Facebook und/oder vom Modeln zurückziehen. Einige sind enttäuscht, andere sind genervt – am allerschlimmsten ist es, wenn sie deprimiert sind. In vielen Fällen hat diese Depression mit einem schwachen Selbstbewusstsein zu tun, das das Model versucht hat, mit dem Vor-der-Kamera-stehen zu bekämpfen. Wobei es nach einiger Zeit erkennen musste, dass dies nicht funktioniert.
 
Alle vier Szenarien haben etwas gemeinsam: sie belegen ein eklatantes Auseinanderdriften von Selbst- und Wunschbild und die Fotografie (bzw. das was einige dafür halten) wird als Schlüssel zur vermeintlichen „Realisierung“ des Wunschbildes angesehen. Damit das eigene Konterfei auf den (photoshop-optimierten) Bildern fast so aussieht wie die Schönheiten in den Hochglanzmagazinen.
 
Was für eine fatale Fehleinschätzung!
 
Denn: Sollte nicht mittlerweile Konsens darüber herrschen, dass eine normale Frau nichts gemein hat mit dem Kunstprodukt, das uns von den Werbeplakaten entgegen lächelt? Dass Barbie – würde sie als Pendant aus Fleisch und Blut mit eben diesen Körperproportionen existieren – nicht lebensfähig wäre?!
 
Unser Frauenbild wird zunehmend geprägt von Hochglanzmagazinen, die uns etwas als Frauen verkaufen, was es im „real life“ nicht gibt. Peter Lindbergh hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass wir „Zombies erschaffen“. Dem ist aus meiner Sicht nicht hinzuzufügen oder gar entgegenzusetzen. Da werden von Fotografen in Photoshop sämtliche Makel eliminiert, Leberflecken und Tattoos entfernt und Körper neu „modelliert“ – nicht selten, ohne das Model (bzw. die Kundin) vorab zu fragen. Das Ergebnis hat dann nichts mehr mit dem Menschen zu tun, der vor der Kamera stand.
 
Dass es auch anders geht, dass gute Porträts kein Photoshop benötigen, kann man bei Lindbergh sehen. Er zeigt in seinen Bildern Frauen mit Falten. Frauen mit Makeln. Aber mit Persönlichkeit! Keine leb- und seelenlosen Plastikschönheiten! Sondern echte Menschen, deren Gesicht etwas zu erzählen hat. Denn kommt es bei guten Porträts nicht DARAUF an: die Persönlichkeit eines Menschen unverfälscht darzustellen? Das Besondere an diesem Menschen herauszuarbeiten? Ihn in seiner natürlichen (!) Schönheit darzustellen; in’s beste Licht zu rücken ohne ihn zu verfälschen? So dass er sich selbst auf den Bildern wieder erkennt. Und natürlich so, dass er sich auf den Bildern mag.
 
Dass sich wieder mehr Menschen mögen wie sie sind; sich quasi zu ihrem eigenen Ich bekennen – dazu können wir Fotografen durchaus etwas beitragen. Wir müssen uns darauf besinnen, dass gute Porträt-Fotografie nichts mit Perfektion zu tun hat – weder technisch noch inhaltlich! Perfektion vom Reißbrett raubt den Menschen die Indiviualität. Nimmt ihnen das Besondere. Vor allem ihre Natürlichkeit. Ich respektiere alle Frauen, die sich für Beauty- und Glamour-Fotoshootings begeistern können und mindestens einmal im Leben auch solche Fotos von sich haben wollen. Ich wünsche mir nur, dass sie nicht vergessen, dass sie auch ohne „special effects“ schön sein können – wenn sie es denn nur zulassen. Und dass sie sich darauf einlassen, genau so fotografiert zu werden.
 
VIELEN DANK!
 
 
 

DISCLAIMER: Meine Texte spiegeln stets meine persönliche Meinung wider. Ich bin davon überzeugt, dass es die ultimative Wahrheit in der Fotografie nicht gibt, aber ich erlaube mir in meinem Blog eine pointierte und streng subjektiv gefärbte Sicht auf die Dinge, die mich beschäftigen und bewegen.