aj’s trivia (#47)


Foto: Yasemin Roos
 
 

aj’s trivia*
(Folge 47)
 
*trivia: „wissenswerte Kleinigkeiten, „dies und das, manchmal auch Kurioses“ [Wikipedia]
 
 
Es liegen höchst abwechslungsreiche Wochen hinter mir und noch immer will sich nicht so recht eine Adventsstimmung einstellen wenngleich doch der erste Advent bereits kurz vor der Tür steht und unsere diesjährige Lebkuchenlieferung vor wenigen Stunden eingetroffen ist. So spät wie nie übrigens – alles den guten Vorsätzen geschuldet, „nicht mehr so viel Süsskram zu fressen“; denn wenn das Zeug erst wenige Wochen vor Weihnachten ankommt, kann man nicht mehr so viel davon zu sich nehmen (wie wir alle wissen, schmeckt Lebkuchen nach Weihnachten einfach nicht mehr). Übrigens gibt es denn besten Lebkuchen Deutschlands nicht etwa in Nürnberg, sondern in Arzberg, im fränkischen Fichtelgebirge bei der Firma Frank Lebkuchen. Ich bin weder verwandt noch verschwägert und Provision bekomme ich auch keine, aber wir bestellen da schon seit ca. 15 Jahren. Nehmt die Haselnuss-Variante ohne Glasur und ohne Schokolade! Ein Traum …
 
 

 
 
… aber ich schweife ab. Ich habe mir für diese Woche eine besondere Ausgabe der trivia ausgedacht und während ich das hier schreibe, singt Tom Waits „I wanna know, how’s it going to end?“. Die Frage stelle ich mir auch gerade – wie das wohl endet, was ich hier gerade schreibe? Ich weiss das ja tatsächlich nie. Ich kenne im groben den Anfang, aber dann …? Ich habe mich fünf Minuten bevor ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe, entschieden, das Ganze heute mal etwas anders anzugehen. Sonst schmücke ich meine fotografischen Trivialitäten ja gern mit dem ein oder anderen Musiktipp und heute drehe ich das Konzept um. Ich schreibe über Tom Waits, gebe einige Anspieltipps aus seinem riesigen musikalischen Oeuvre und wechsele dann ganz elegant zu einem fotografischen Thema. Soweit der Plan – schauen wir mal …
 
 

John-Erik | Oktober 2017
 
 
Tom Waits dürfte so ziemlich die schrulligste Figur im Musikzirkus sein – seine erste Platte machte er 1973 und noch immer ist kreativ und er haut auch heutzutage immer mal wieder einen raus. Keine Hits, versteht sich, aber wirklich grandiose Musik. Wobei diese Einschätzung wirklich nicht jeder teilt – und das ist bereits stark untertrieben. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als ich Tom Waits das erste Mal hörte. Da bellte Jemand in’s Mikrofon oder nein – eigentlich war es mehr ein Röcheln und ein Gurgeln. Dazu eine Musik, von der ich nicht den leisesten Schimmer hatte, in welches Genre man die eigentlich einzuordnen hatte. Angefangen hat er definitiv als Blues-Musiker und dann hat er irgendwann die ein oder andere Abzweigung genommen und heute steht er wirklich ziemlich einzigartig da, der Tom. Nicht wenige sagen, dass er erst heute, mit seinen beinahe 68 Jahren, das passende Alter für seine Stimme hat, die er eben schon mit 24 Jahren hatte, als er sein erstes Album aufnahm. Es gibt Menschen, die behaupten, dass er regelmässig Autoreifen raucht und mit Kerosin gurgelt und jeder, der mal in eines seiner Alben reingehört hat, wird nicht dagegen wetten.
 
 

 
 
Lange Rede, kurzer Sinn: ich habe ihn damals im Radio gehört und meine Reaktion war „HÄH???“ (und ich glaube, diese Reaktion ist noch durch meine Erinnerung geschönt – gedacht habe ich wahrscheinlich irgendetwas viel Unflätigeres). Das Thema Tom Waits war jedenfalls für mich schnell erledigt und ich habe mich wieder der eingängigeren Musik gewidmet – Dingen, die mir vertrauter waren. Hin und wieder las ich dann bei der ein oder anderen Neuveröffentlichung von ihm euphorische Rezensionen von Musik-Journalisten, die mich eher kopfschüttelnd zurückliessen (ich war damals intensiver Konsument des „Rolling Stone“-Magazins und auch des „Musik Express“). Und dann fand ich irgendwann eines seiner (bis heute sehr seltenen) Interviews, erschienen im „Rolling Stone“ – einer der Journalisten hatte Waits auf seiner Farm „in the middle of nowhere“ besucht und interviewt. Da begann mich der Mann zu faszinieren. Wegen seiner Leidenschaft, wegen seiner Haltung – dieser Mann brennt für die Musik, aber ihm ist das ganze Drumherum zuwider. Und ihm ist völlig egal, was andere Menschen von seiner Musik denken. Ob sie sie verstehen. Ob sie sie ablehnen. Es juckt ihn nicht. Er macht das, was er immer machen wollte. Einige Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Tom Waits habe ich mich dann erstmals bewusst auf seine Musik eingelassen und chronologisch vorgearbeitet (was ich jedem Einsteiger in den Waits-Kosmos nur empfehlen kann) – angefangen mit seinem Debütalbum „Closing Time“ von 1973, das rückblickend fast „zahm“ anmutet. Über das grandiose Album „Rain Dogs“ von 1985, was nicht wenige für sein bestes Album halten, bis zum aktuellen Album „Bad As Me“ von 2011. Aus diesem Album stammt auch der nachfolgende Song, den Tom Waits live in der Jimmy Fallon Show performte – und DAS muss man sich einfach anschauen …
 
 

 
 
Leidenschaft? CHECK! Musikalität? CHECK! Inbrunst? CHECK! CHECK! CHECK!!!
 
Heute zählt Tom Waits neben Van Morrison zu meinen absoluten Lieblingskünstlern. Aber warum schreibe das alles? Hier? In einem Blog, in dem es vorrangig um Fotografie gehen sollte? Nun, Tom Waits ist meines Erachtens beispielgebend. Er ist unbequem. Man findet keinen direkten Zugang zu ihm und seiner Musik. Er macht ganz sicher keine gefällige Sachen. Aber es gibt viele Menschen, die sich (oft nach anfänglicher Irritation) einer Faszination für ihn und seine Musik nicht entziehen können. Seine Musik – so rauh, so ungefiltert, so echt! Und sie wird immer besser – je länger man sich damit beschäftigt. Was aber ist das „Geheimnis“ von Tom Waits? Er ist sich selbst über all die Jahre treu geblieben – da konnten die Plattenfirmen noch so insistieren, doch mal etwas „chart-taugliches“ zu machen. Da konnten sie noch so lamentieren, „dass das doch zu viele Menschen vor den Kopf stoßen könnte“. Waits hat seinen Kram gemacht, hat seine Platten eingespielt und ist dann wieder zurück in die Pampa gegangen. Und liess die Plattenbosse nicht selten ratlos zurück. Waits hat sich nicht verbogen. Und deswegen ist er zufrieden mit sich und der Welt. Und ich bin sicher, dass dieses „Nicht-Verbiegen“ der Grund ist, warum er heute immer noch Musik macht. Musik bisweilen wie von einem anderen Stern. Musik, die bleibt – auch davon bin ich fest überzeugt. Es ist eben NICHT die leicht konsumierbare Musik, die überdauert. Es ist oft die Musik, die wachsen muss – die man sich als Hörer „erarbeiten“ muss. Die so genannten „Grower“ sind immer die, die man auch nach Jahren noch hört – während die „Sommerhits“ von anno dazumal heute meist einfach nur noch peinlich sind.
 
 

Lea | Oktober 2017
 
 
Und genau hier sehe ich die Parallele zur Fotografie. Walter Schels – einer der besten noch lebenden deutschen Porträtfotografen – hat mal in einem Interview gesagt, dass die heutigen sozialen Medien zu einer Veränderung der Porträtfotografie geführt hat. Da der Mensch dazu neigt, anderen Menschen gefallen zu wollen – und dies von der Like-Kultur auf Facebook und Co. noch gefördert wird -, fangen wir automatisch an, GEFÄLLIGE Bilder zu machen. Bilder, die möglichst vielen anderen Menschen gefallen sollen. Aber ist dies wirklich der Anspruch eines Fotografen, der etwas auf sich und seine Kunst hält? Doch ganz sicher nicht, oder? Und ist es nicht so, dass es dann doch wieder Bilder werden wie es sie bereits zuhauf gibt? Warum also nicht auch mal „Kante“ zeigen? Dinge fotografieren, die möglicherweise nicht mehrheitsfähig sind, aber auf die man einfach „Bock“ hat. Sei es nur, weil man keine Lust mehr auf die immer gleichen schönen Bilder*** hat. Und vielleicht findet man ohne den vermeintlichen Zwang, schöne Bilder produzieren zu MÜSSEN, auf einmal einen ganz anderen Bezug zur Fotografie. Entdeckt, dass man sich mit der Fotografie ausdrücken kann – statt einfach nur (vermeintlich) „Schönes“ abzufotografieren.
 
***Schöne Bilder – es gibt keine schlimmere Vokabel, die mir mein Kurator an den Kopf werfen kann (was er dennoch regelmässig tut, um mich zu provozieren). Über meinen Kurator wollte ich ja sowieso noch mal etwas ausführlicher schreiben (das notiere ich mir direkt mal …).
 
 

 
 
Gebt also Mr. Waits eine zweite Chance! Versucht, Euch in sein Zeug reinzuören – nicht „nebenbei beim Staubsaugen“ sondern ganz bewusst (am Besten bei einem Glas Whisky – nichts passt besser dazu!) und mit geschlossenen Augen. Und vielleicht taugt Tom Waits sogar als fotografisches Vorbild, wenn er uns dazu inspiriert, hin und wieder den „Gefälligkeits-Modus“ zu verlassen und auch mal unkonventionelle Dinge zu machen. Auf der Suche nach Motiven, die nachhaltig (!) bewegen und eben nicht nur auf ein schnelles „nee, watt schön“ ausgerichtet sind.
 
Ich schliesse heute mit einer kleinen Anekdote – einer Geschichte, die sich erst kürzlich ereignet hat. Robin (von ihm berichtete ich in der allerersten Ausgabe meiner trivia – er ist eigentlich „Schuld“, dass ich mich hier jede Woche hinsetze und für Euch schreibe) … Robin also war kürzlich in meinem Atelier und brachte seine Freundin Christin mit, die ich bis dahin nur zwei mal kurz gesehen hatte. Ich habe Robin angeboten, dass er Christin mit meiner analogen Hasselblad fotografieren darf – natürlich darauf spekulierend, dass ich anschliessend auch ein paar Fotos von ihr machen kann …^^ Die entstandenen Bilder schickte ich ihr schon den darauf folgenden Tag und ihre erste Reaktion war „oh schon fertig? Vielen Dank!„. Okay, ekstatische Freude klingt wahrscheinlich anders, dachte ich mir, aber Christin ist jetzt auch nicht so der extrovertierte Suppenkasper-Typ – insofern passte das schon. Am gleichen Abend bekam ich noch eine zweite Mail, deren Inhalt ich mit ihrem Einverständnis hier zitieren darf:
 
 

Christin | Oktober 2017
 
 
So, nach einer Überlegung und etwas „Mut zusammen nehmen“ schreibe ich noch eine zweite E-Mail. Mein erster Eindruck beim Öffnen meines Postfachs: „Oh die Bilder sind schon Fertig?!“ (Ich bin gespannt und freue mich..)

Nach dem Öffnen der ersten Bilder war eine kleine Enttäuschung vorhanden. Die Bilder waren ok, gut, aber ich empfand sie nicht als schön. Irgendetwas störte mich, denn ich habe Robins Bilder im Kopf gehabt, welche er von mir gemacht hatte. Mir war es fast schon unangenehm so zu denken! Im Nachhinein…

Nach einem kurzen Moment Ruhe und etwas Nachdenken war die Lösung, welche eigentlich klar ist, für mich gefunden. DU bist definitiv nicht Robin und siehst mich deshalb auch nicht mit seinen Augen! (Klingt lustig? Ist es!) Er weiß, was ich selbst an mir schön finde. Du hast Bilder gemacht, wie du mich siehst. Viele Dinge, die ich aber selbst so nicht an mir mag.

Also nochmal in die Mail und die Bilder ansehen – keine Vergleiche, keine Erwartung.

Die Bilder sind anders. Anders als ich erwartet habe. Sie sind gut, nein sogar besser! Du hast es geschafft, dass ich mich nach mehrmaligem Ansehen mit anderen Augen gesehen habe. Richtig, denn es lag nicht an den Bildern die du gemacht hast, es lag an mir. Dass ich die Bilder nicht direkt als schön empfunden habe lag daran, dass ich mir so nicht gefalle. Robin weiß wie ich mir gefalle, DU nicht!

Jeder kann fotografieren! Doch derjenige der es schafft einen Menschen so ehrlich und ungeschönt, aber dennoch schön, zu fotografieren, obwohl er Ihn kaum kennt, ist ein wahrer Meister seines Fachs.

Vielen lieben Dank nochmal und einen schönen Abend!

Christin“
 
 
Ich habe wahrscheinlich nie ein schöneres Kompliment für meine Fotografie bekommen …
 
 
In diesem Sinne …: haltet die Ohren steif und bleibt mir gewogen.
Bis die Tage!
 
 
Cheers!
Andreas