aj’s trivia (#45)


Foto: Yasemin Roos
 
 

aj’s trivia*
(Folge 45)
 
*trivia: „wissenswerte Kleinigkeiten, „dies und das, manchmal auch Kurioses“ [Wikipedia]
 
 
Aus aktuellem Anlass krame ich mal einen Beitrag raus, den ich vor ziemlich genau einem Jahr verfasst und an anderer Stelle veröffentlicht habe. Dafür gibt es drei gute Gründe: Erstens hat der Beitrag nichts von seiner Aktualität eingebüsst, zweitens bin ich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser trivia gerade unter der Sonne von Palma de Mallorca unterwegs (und ich HASSE es, lange Texte am Smartphone zu schreiben!) und drittens gibt es (wie bereits oben erwähnt) einen aktuellen Anlass – aber dazu später mehr.
 
Zunächst einmal – so viel Zeit muss sein – gibt’s hier den ersten Musiktipp für diese Woche. Jetzt sehe ich bereits den ein oder anderen mit den Augen rollen, wenn ich hier Elton John als Musiktipp vorstelle – und dann noch mit einem Song aus den 2000er Jahren (und nicht aus seiner Blütezeit – den 70ern – als er ein Weltklassealbum nach dem nächsten raushaute). „Hatte er nicht was von Musik abseits des Mainstreams erzählt als er mit seiner trivia-Reihe gestartet ist“ höre ich Euch sagen, aber erstens halte ich es da mit dem ollen Adenauer und zweitens mache ich bei Elton John aus mehreren Gründen eine Ausnahme. Durch die Gnade meiner frühen Geburt kenne ich Elton John noch in Hochform – die meisten heutzutage verbinden ihn mit der Trauerfeier für Lady Di, „Candle in the wind“ oder schlimmer noch: mit seinen unsäglichen Songs und Alben aus den 90er Jahren – sie kennen ihn gar nicht anders. Ein kleiner, dicker, schwuler Mann mit Toupet und schlechtem Kleidergeschmack und Songs, von denen man schon beim Zuhören Karies bekommt. Welch brillanter Singer-/Songwriter er einmal war (für mich einer der grössten noch lebenden unserer Zeit) haben viele gar nicht mehr auf dem Schirm. Aber das Allergenialste ist: er hat vor ein paar Jahren wieder zu seiner Form zurück gefunden. Als er nämlich aufgehört hat, krampfhaft Hits schreiben zu wollen, als sich darauf besonnen hat, was ER wirklich mag, fing er an, endlich wieder grandiose Alben zu machen und eines davon ist „Peachtree Road“ aus dem Jahr 2004, aus dem der nachfolgende Song stammt.
 
(wer hier eine Parallele zu dem sieht, was ich hier und da schon mal über die Fotografie geschrieben habe – nämlich einfach das zu tun, was man SELBST mag und nicht das, was vermeintlich viel Zuspruch bringt – liegt vielleicht gar nicht so falsch … ;))
 
 

 
 
Ein „Drama“ in vier Akten:
 
1. Ein befreundetes Model hat kürzlich ein unretuschiertes Bild von sich auf Facebook gepostet, auf dem sie ungeschminkt zu sehen ist. Die Kommentare, die sie zum Teil darauf bekommen hat, haben mich verblüfft. Nein, streng genommen, haben sie mich entsetzt. „So würde ich nie rausgehen“ und „dass Du Dich so was traust“ waren noch die harmloseren Aussagen – „das sieht ja furchtbar aus“ einer von vielen deftigeren Kommentaren. Verblüffend für mich: 95% der negativen Reaktionen stammten von Frauen!
 
2. Mich tangiert es nicht mehr, aber von Kollegen weiss ich, dass sie regelmässig mit Kundenwünschen mit dem Tenor „bitte hier etwas weniger und da darf’s ruhig etwas mehr sein“ konfrontiert werden. Wohlbemerkt: ich spreche nicht vom Metzgerladen um die Ecke sondern von Fotografen! ;)
 
3. Das mit den Selfies ist ja so eine Sache. Kann man gut finden oder nicht – Fakt ist: man entkommt ihnen nicht. Auf keiner social media Plattform. Es gab Zeiten, da habe ich von sich bei mir bewerbenden Models in Ermangelung professioneller Polas im Ausnahmefall auch mal Selfies als Bildmaterial akzeptiert. Diese Zeiten sind vorbei und warum ist das so? Weil heutzutage kaum noch ein Selfie veröffentlicht wird, dass nicht durch Apps wie Facetune und Co. „optimiert“ ist. „Aufgehübscht“ wie es oft niedlich formuliert wird.
 
4. Ich sehe in letzter Zeit des öfteren, wie sich (Hobby)Models von der „Szene“, von Facebook und/oder vom Modeln zurückziehen. Einige sind enttäuscht, andere sind genervt – am allerschlimmsten ist es, wenn sie deprimiert sind. In vielen Fällen hat diese Depression mit einem schwachen Selbstbewusstsein zu tun, das das Model versucht hat, mit dem Vor-der-Kamera-stehen zu bekämpfen. Wobei es nach einiger Zeit erkennen musste, dass dies nicht funktioniert.
 
Alle vier Szenarien haben etwas gemeinsam: sie belegen ein eklatantes Auseinanderdriften von Selbst- und Wunschbild und die Fotografie (bzw. das was einige dafür halten) wird als der Schlüssel zur vermeintlichen „Realisierung“ des Wunschbildes angesehen. Damit das eigene Konterfei auf den (photoshop-optimierten) Bildern fast so aussieht wie die Schönheiten in den Hochglanzmagazinen.
 
Was für eine fatale Fehleinschätzung!
 
Denn: Sollte nicht mittlerweile Konsens darüber herrschen, dass eine normale Frau nichts gemein hat mit dem Kunstprodukt, das uns von den Werbeplakaten entgegen lächelt? Dass Barbie – würde sie als Pendant aus Fleisch und Blut mit eben diesen Körperproportionen existieren – nicht lebensfähig wäre?!
 
Unser Frauenbild wird zunehmend geprägt von Hochglanzmagazinen, die uns etwas als Frauen verkaufen, was es im „real life“ nicht gibt. Peter Lindbergh hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass wir „Zombies erschaffen“. Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen oder gar entgegenzusetzen. Da werden von Fotografen in Photoshop sämtliche Makel eliminiert, Leberflecken und Tattoos entfernt und Körper neu „modelliert“ – nicht selten, ohne das Model (bzw. die Kundin) vorab zu fragen. Das Ergebnis hat dann nichts mehr mit dem Menschen zu tun, der vor der Kamera stand.
 
Dass es auch anders geht, dass gute Porträts kein Photoshop benötigen, kann man nicht nur bei Lindbergh sehen. Er zeigt in seinen Bildern Frauen mit Falten. Frauen mit Makeln. Aber mit Persönlichkeit! Keine leb- und seelenlosen Plastikschönheiten! Sondern echte Menschen, deren Gesicht etwas zu erzählen hat. Denn kommt es bei guten Porträts nicht DARAUF an: die Persönlichkeit eines Menschen unverfälscht darzustellen? Das Besondere an diesem Menschen herauszuarbeiten? Ihn in seiner natürlichen (!) Schönheit darzustellen; in’s beste Licht zu rücken ohne ihn zu verfälschen? So dass er sich selbst auf den Bildern wieder erkennt. Und natürlich so, dass er sich auf den Bildern mag.
 
Dass sich wieder mehr Menschen mögen wie sie sind – sich quasi zu ihrem eigenen Ich bekennen. Dazu können wir Fotografen durchaus beitragen. Wir müssen uns darauf besinnen, dass gute Porträt-Fotografie nichts mit Perfektion zu tun hat – weder technisch noch inhaltlich! Perfektion vom Reißbrett raubt den Menschen die Indiviualität. Nimmt ihnen das Besondere. Vor allem ihre Natürlichkeit. Ich respektiere alle Frauen, die sich für Beauty- und Glamour-Fotoshootings begeistern können und mindestens einmal im Leben auch solche Fotos von sich haben wollen. Ich wünsche mir nur, dass sie nicht vergessen, dass sie auch ohne „special effects“ schön sein können – wenn sie es denn nur zulassen. Und dass sie sich darauf einlassen, genau so fotografiert zu werden.
 
 

 
 
„Zugelassen“ hat dies u.a. Amy – ich hatte in meiner letzten trivia schon einmal kurz von berichtet. Die komplette Bildstrecke könnt Ihr seit ein paar Tagen in einem separaten Blog-Beitrag sehen. Mehr als 30 Bilder von einer ungeschminkten schönen Frau. Ohne Photoshop. Und ohne Farbe … ;) … KLICK!
 
Zu diesem Thema passt übrigens auch das Thema „Bodyshaming„, das der geschätzte Kollege Patrick Harazim kürzlich auf Facebook in ironischer Weise aufgegriffen hat – in der Hoffnung, dass wirklich JEDER die dahinterliegende Problematik begreift (ein Klick auf das Bild bringt Euch zum Thema und der Diskussion auf Facebook):
 

 
Jegliches (!) Bodyshaming ist absolut inakzeptabel – da muss endlich (!) Konsens herrschen! Genau so wenig wie man dicke Menschen wegen ihres Übergewichts beleidigen darf (hier herrscht interessanterweise weitgehend Einigkeit), sollten auch abfällige Sprüche gegen schlanke Menschen tabu sein. „Gebt der Frau mal etwas zu essen“ (nur weil man auf den Fotos die Rippen der Frau sieht), ist eine erbärmliche Aussage (und zeugt zudem von nicht allzu viel Sachverstand). Patrick hat das mit seinem nachgestellten Foto sehr schön auf den Punkt gebracht (wie er selbst kurz darauf auflöste, hatte er zum Zeitpunkt der Aufnahme bei 185cm Körpergrösse ein dreistelliges Kampfgewicht – er ist damit also relativ unverdächtig, unterernährt zu sein …). ABER: ist es nicht auch eine Art von Bodyshaming, wenn wir Fotografen hingehen und (möglicherweise sogar ungefragt) die Figur des Models per Liquifyer (Verflüssigen-Filter in Photoshop) optimieren? Ich habe bereits einige Menschen bei mir zu Besuch gehabt, die mir erzählten, dass sie peinlich berührt waren, wenn ihnen der Fotograf schlankere Beine und/oder grössere Brüste via Photoshop „verordnet“ hat. „Offensichtlich war dann ja mit meinem Aussehen nicht so zufrieden“ oder „warum nimmt er sich dann nicht gleich ein Model, das so aussieht wie er es gern hätte?“ waren Aussagen, die man auf sich wirken lassen sollte. Es gibt Frauen, die verletzt so etwas – und es sind nicht wenige …
 
Was war noch? Ach ja … Ausgabe #03 von „aj“ ist fertig! Zumindest auf dem Rechner …. das Layout steht und mein Kollege Matthes Zimmermann hat sich mal wieder selbst übertroffen. Die Ausgabe wird ein Knaller – das darf ich bereits jetzt versprechen!
 
Zum Abschluss gibt’s dann noch einen zweiten Musik-Tipp und der ist nun wirklich nicht unbedingt dem Mainstream zuzuordnen. Schon seit geraumer Zeit habe ich grossen Gefallen an dem Musik-Genre „Post-Rock“ gefunden. Post-Rock ist im Prinzip Rockmusik (klassische Instrumentierung: Gitarre, Bass, Schlagzeug), aber ohne Gesang. Das klingt erst mal befremdlich, aber bei näherer Betrachtung hat diese Musik durchaus ihren Reiz. Fehlende Vocals werden oft kompensiert durch Melodien und Harmonien – nicht selten sind die einzelnen Titel crescendo-artig aufgebaut, fangen also ruhig an, um dann hinten raus so richtig abzugehen. Einer der Post-Rock Vertreter ist die Gruppe Leech, eine Band aus der Schweiz, deren Alben ich mir auf Vinyl besorgt habe. Viel Spass beim Reinhören!
 
 
Haltet die Ohren steif und bleibt mir gewogen.
Bis die Tage!
 
 
Cheers!
Andreas