aj’s trivia (#44)


Foto: Yasemin Roos

 

aj’s trivia*
(Folge 44)
 
*trivia: „wissenswerte Kleinigkeiten, „dies und das, manchmal auch Kurioses“ [Wikipedia]
 

Letzte Woche habe ich über eines meiner Lieblingsworte geschrieben (Oxymoron) und auch heute möchte ich über einen Begriff schreiben. Einen Begriff, der eine Tugend beschreibt, die zunehmend aus der Mode zu kommen scheint. Aber ich will etwas anders anfangen. Jeder, der mich kennt, weiss, dass ich Peter Lindbergh und seine Arbeit mag und ich möchte heute darüber schreiben, was genau ich eigentlich an Lindbergh so schätze. Aber Stopp, Moment! Auch wenn Ihr kein Fan von den Arbeiten Lindberghs seid oder Euch möglicherweise einfach nur der Hype in den letzten 1-2 Jahren um diesen Mann nervt (letzteres kann ich gut verstehen) – nicht einfach weiter scrollen; denn im nachfolgenden Text geht es weniger um Lindbergh im Speziellen als um die Fotoszene im Allgemeinen …
 
Aber lasst mich zunächst einmal meinen ersten Musiktipp der Woche raushauen: eine deutsche Band, die bei einigen wahrscheinlich schon in Vergessenheit geraten ist – viele andere haben wahrscheinlich noch nie von ihr gehört. Einer der bekanntesten Vertreter des Krautrocks war Birth Control (zu deren Gründungsmitgliedern übrigens Hugo Egon Balder am Schlagzeug gehörte). Ihr einziger (dafür sehr veritabler) Hit war der Song „Gamma Ray“, den man heute noch auf der ein oder anderen guten Party hören kann. Und von diesem Song gibt es die ultimative Live-Version, die mit über 20 Minuten Spiellänge die Studioversion nicht nur längentechnisch in den Schatten stellt. Aus dem Jahr 1974 und immer noch ein Brett … viel Spass dabei!
 
 

 
 
Lasst mich noch mal kurz auf Peter Lindbergh zurückkommen: was sind es für Dinge, die ich an ihm (und vergleichbaren Kollegen) so schätze? Da ist zum einen seine Fotografie – dies ist der Punkt, an dem die Geschmäcker auseinander gehen und das ist auch völlig okay so. Ich finde seine Fotografie großartig, viele andere finden sie überbewertet. Geschenkt. Geschmack ist nun mal subjektiv. Kommen wir zu den wichtigeren Punkten – aber Moment! Was kann wichtiger bei der Bewertung eines Fotografen sein als seine Arbeiten? Nun, mir fallen da zwei, drei Punkte ein und genau über die will ich heute sprechen …
 
1. Leidenschaft! Eine der wichtigsten Eigenschaften eines Fotografen (liebe Fotografinnen: bitte seid mir nicht böse, wenn ich überwiegend auf die Dopplung verzichte und meist einfach nur Fotograf schreibe – selbstverständlich seid damit auch Ihr weiblichen Fotografen damit gemeint!). Noch mal: ich halte Leidenschaft für eine der wichtigsten Eigenschaften eines Fotografen; denn alles (!), was man mit Leidenschaft macht, macht man irgendwie gut – ich bin fest davon überzeugt! (umgekehrt gilt, dass alles, was man nicht mit 100%iger Überzeugung macht, auch immer nur irgendwie „halbgar“ wird – denkt mal drüber nach) Wer Lindbergh mit seinen nun mehr 72 Jahren sieht, merkt, dass er immer noch „brennt“ für die Fotografie. Mögen ihn viele bereits weit über seinen Zenit sehen – er ist immer noch in der Lage, eine Idee wie die für den 2017er Pirelli Kalender konsequent durchzuziehen und umzusetzen.
 
2. Empathie! Ich habe es an anderer Stelle bereits gesagt: ohne Empathie kann ich mir die Porträtfotografie nicht vorstellen. Ich persönlich halte sie für unverzichtbar, um zu guten Porträts zu kommen (auch wenn die fotografische Geschichte lehrt, dass es auch in diesem Punkt wenige (!) Ausnahmen von der Regel gibt). Und wer Lindbergh mal am Set erlebt hat, bemerkt sofort, dass er die Empathie gegenüber seinen Mitmenschen offensichtlich bereits mit der Muttermilch aufgesogen hat. Ein Charmeur, ein Filou und ein Gentleman – ein „Kümmerer“, der immer die Models oben an stellt. Die sich dann entsprechend wohl fühlen. Und das Thema hatten wir ja schon mal …
 
3. Haltung! Viele sagen, dass Lindbergh sich erst im gesetzten Alter (und unantastbarer Reputation) den Mut hat, aufzubegehren – gegen den Hungerwahn, gegen Photoshop, gegen das „Gekünstelte“ in der Porträtfotografie. Aber das stimmt nicht! Lindbergh hat schon sehr viel früher Haltung gezeigt – das berühmteste Beispiel ist das des Fotoshootings für die amerikanische VOGUE, als er vom damaligen Chef eine carte blanche bekam und diese dahingehend nutzte, dass er seine Models alle in 08/15 weisse Blusen stecke und über den Strand laufen liess. Getreu dem Motto, dass der Mensch wichtiger als die Mode sei, die er zur Schau stellt. Die Chefetage der VOGUE war damals mehr als konsterniert und konnte mit den Bildern nichts anfangen, weshalb sie erst mal in der Schublade verschwanden. Wenig später wurden die Bilder wieder aus der Schublade geholt und der Rest ist Geschichte – Lindbergh hatte einen neuen Trend geprägt, den er bis heute fortführt (was ihn schon lange nicht mehr zum Trendsetter macht, aber das will er gar nicht sein). Dass er heute kein Interview ungenutzt lässt, seine ablehnende Haltung gegenüber dem Photoshop-Wahn („wir erschaffen Zombies“) zu wiederholen, macht ihn in den Augen mancher zu einem „starrköpfigen Alten“, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Ich sage, dass es ihn glaubwürdig und authentisch macht. Eine Haltung zu haben (und beizubehalten) ist in Zeiten der stromlinienförmigen Gestalten allüberall eine wunderbare Eigenschaft, zu der man jeden Menschen nur beglückwünschen kann. Wo wir bereits bei unmodernen und möglicherweise unpopulären Charakterzügen sind, kommen wir zu einer Eigenschaft, die selten geworden ist …
 
4. Demut! Da muss manch einer vielleicht sogar bei Wikipedia nachschlagen – „Demut“? Was war das gleich noch? In Zeiten der sozialen Medien beinahe ein Anachronismus – leider! Peter Lindbergh hat noch nie seine Herkunft verleugnet – er hält sich auch heute noch, nachdem er bereits seit Jahrzehnten in Paris und auf Ibiza wohnt, für einen „Pottjungen“ und das ist keine Koketterie. Ein absolut bodenständiger Kerl, der weiss, wo er herkommt. Ohne Allüren, ohne Star-Getue. Ein Mann, dessen Prints 75.000 Euro kosten, der zur absoluten Champions League der internationalen Fotografie gehört. Aber ihm käme nie in den Sinn, eine Frage nach einem Autogramm abschlägig zu bescheiden. Oder damit zu protzen, wen er gerade erst letzte Woche vor der Kamera hatte. Vor solchen Menschen habe ich Respekt. Großen Respekt!
 
Und Lindbergh ist da keine Ausnahme. Es gibt viele von seiner Gattung, die Demut für eine erstrebenswerte Tugend halten. Aber ich fürchte, sie sterben aus, diese Menschen. Nicht anders sind viele Dinge, viele Verhaltensweisen zu erklären. Letzte Woche flatterte mir eine Facebook-Werbung für eine Veranstaltung im nächsten Jahr um die Ohren (und Augen): „Photostars“ stand da zu lesen (den kompletten Titel lasse ich jetzt mal weg – will ja niemandem zu nahe treten und wenn es doof läuft, verletze ich damit noch irgendwelche Copyrights …^^) und meine Reaktion war ein leichtes Zucken meiner rechten Augenbraue (es ist IMMER die rechte). „Photostars“?!? … Donnerwetter! Natürlich waren damit keine Lindberghs oder Corbijns gemeint und wisst Ihr warum? Weil sich diese Fotografen niemals auf eine Bühne stellen würden, auf der sie als „Photostar“ angekündigt werden. Ich glaube, es wäre ihnen hochnotpeinlich. Wie vielleicht auch den Kollegen, die auf der angesprochenen Veranstaltung Vorträge halten werden – ich weiss es nicht. Aber muss man als Veranstalter heutzutage tatsächlich so tief in die „höher/schneller/weiter“-Kiste greifen? Kann man die potentiellen Interessenten tatsächlich nur noch locken, in dem man „Weltherrschaft“ verspricht? Wenn dem so ist, wäre das traurig. Ich persönlich glaube das auch nicht. Ich glaube, dass es reicht, ein Vokabular zu verwenden, dass auch Lindbergh verwenden würde, wenn man ihn fragt, wie er sich selbst bezeichnet. Ich traue ihm zu, dass er dann einfach nur „Fotograf“ sagt …
 
Jetzt könnte man argumentieren „Photostars ist doch nur ein Wort“ – ich aber sage, es ist mehr als das: es ist eine HALTUNG. Und diese steht niemandem gut zu Gesicht. Egal wie angesagt/fancy/toll er/sie sein mag. Ein bisschen mehr Demut würde der ganzen Szene gut tun … finde ich.
 
 

 
 
Was gab es in der vergangenen Woche noch? Ich hatte ein großartiges Fotoshooting mit einer jungen Dame, die den weiten Weg aus dem tiefsten Schwabenland auf sich nahm, um sich vor meine Kamera zu stellen. Natürliche Fotos sollten es werden. Und ungeschminkt. Und „keinen Fall gephotoshopt“. Dafür suchte sie auf Facebook einen Fotografen und da habe ich natürlich auch meinen Hut in den Ring geworfen. Aus zweierlei Gründen: erstens mag ich es so (dürfte mittlerweile bekannt sein) und zweitens gibt es viel zu wenige Frauen, die das aus freien Stücken (ohne dass ich sie zwinge^^) auch wollen. Von der reinen Theorie her musste das also gut klappen. Und in der Praxis klappte das sogar noch sehr viel besser. Ein toller Tag und zwischen gemeinsamen Frühstück und abschliessender Pizza beim Lieblingsitaliener haben wir auch irgendwann Fotos gemacht. Für Ausgabe #03 von „aj“ kam es leider etwas zu spät, aber ich verspreche, dass die Bildstrecke mit Amy (so heisst die junge Dame) in Kürze zu sehen sein wird – oben gibt’s erst mal nur einen kleinen Appetithappen … :)
 
Was mich in dieser Woche bewegte und komplett vereinnahmt hat, war die Fertigstellung der Bildstrecken für die dritte Ausgabe von „aj“, da der Abgabetermin bei der Druckerei näher rückt und mein Kollege Matthes Zimmermann ja auch noch Zeit benötigt, um wieder ein tolles Layout zu zaubern. Drei Tage habe ich stinkend und schwitzend vor meinem Rechner verbracht – lediglich unterbrochen von Toilettengang und Essen … und Kaffee! Literweise Kaffee! Der übliche Wahnsinn also und ich schätze, es hat sich gelohnt. Die Ausgabe wird ein Knaller – das sage ich jetzt einfach mal ganz unbescheiden. Aber voller DEMUT; denn ich weiss, dass ich ohne all die wunderbaren Menschen vor meiner Kamera nichts zum Zeigen hätte. Und ohne Matthes wäre es nur halb so schön, weil ein gutes Layout einfach essentiell ist. Und ohne die beste Ehefrau von allen wäre ich wahrscheinlich nach drei Tagen komplett unterzuckert (und unterkoffeiniert) vom Stuhl gefallen … :)
 
Ich denke, das war ein ganz gutes Schlusswort für heute – ganz unten gibt’s dann noch den zweiten Musiktipp für heute. Kein Geheimtipp mehr, aber der ein oder andere kennt es ja vielleicht noch nicht. By the way: das ganze Album („Fever Ray“) ist ein absoluter Pflichtkauf!
 
Nächste Woche bin ich 5 Tage in Palma – eine neue Ausgabe von „aj’s trivia“ wird’s trotzdem geben … versprochen!

 
 
Haltet die Ohren steif und bleibt mir gewogen.
Bis die Tage!
 
 
Cheers!
Andreas